Der Jugendliche P. war bereits auf der viel zitierten schiefen Bahn unterwegs, da bessert sich sein Verhalten in einer Einrichtung mit therapeutischer Begleitung. Die Mutter möchte nun das Sorgerecht zurück, doch das Amtsgericht fürchtet um die Entwicklung des Jungen.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 03.07.2013 – 9 UF 25/12, DRsp-Nr. 2013/16879

Die bloße Befürchtung, die eingetretene positive Entwicklung eines Jugendlichen könne Rückschritte erleiden, reicht nicht aus, um einen fortgesetzten nachhaltigen Eingriff in das Sorgerecht der Mutter zu rechtfertigen.

Darum geht es

 

Im September 2010 entzog das AG im Wege der einstweiligen Anordnung der bis dahin allein sorgeberechtigten Mutter die elterliche Sorge für ihr heute 15-jähriges Kind und bestellte das Jugendamt zum Vormund.

Jetzt gratis herunterladen:

Schriftsatzmuster “Gemeinsame Sorge beantragen”

Musterantrag-Gemeinsame-Sorge

Für Ihre Fälle zum neuen Sorgerecht:

Musterantrag auf Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge gem. § 1626a Abs. 2 BGB i.V.m. § 155a FamFG.

Besonders praktisch: Das Schriftsatzmuster stellt für die Antragsbegründung mehrere Alternativen vor, die Sie auf Ihre Fälle anpassen können.



Der Hintergrund waren erhebliche Fehlzeiten in der Schule und beginnendes straffälliges Verhalten. Gegen diese Entscheidung legte die Mutter Beschwerde ein, die das OLG wegen Zweifeln an der Erziehungsfähigkeit der Mutter zurückwies.
Zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung hielt sowohl das Jugendamt als auch das OLG die Fremdunterbringung des Kindes für geboten.


Entscheidung der Vorinstanz

 

Nach erheblichen Krisen und der Unterbringung in einer Einrichtung mit therapeutischer Begleitung und Unterstützung gewaltbereiter, krimineller und suchtgefährdeter Jugendlicher wird das Kind seit November 2011 im Einvernehmen mit dem Jugendamt wieder im Haushalt der Mutter versorgt und betreut.
Seit März 2012 ist in der Familie ein Erziehungsbeistand tätig. Im September 2010 hat die Mutter die Rückübertragung der elterlichen Sorge und die Aufhebung der Vormundschaft beantragt.
Nach Anhörung der Beteiligten und des Jugendlichen hat das AG den Sorgerechtsantrag der Mutter zurückgewiesen. Dagegen hat sie Beschwerde eingelegt, mit der sie ihr Begehren nach Rückübertragung der elterlichen Sorge weiterverfolgt.


Wesentliche Entscheidungsgründe

 

Die Beschwerde führt zur Aufhebung der angeordneten Vormundschaft und zur Rückübertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf die Mutter. Nach derzeitigem Sachstand ist es nicht mehr gerechtfertigt, der Mutter gem. §§ 1666, 1666a BGB die elterliche Sorge für den Jugendlichen zu entziehen.


Voraussetzungen für eine Entziehung des Sorgerechts

 

Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.
Die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge darf als Maßnahme nur ergriffen werden, wenn gegenwärtig eine erhebliche Gefahr vorhanden ist, dass sich eine Schädigung des geistigen oder seelischen Wohls des Kindes ergeben wird, und dieser nur durch die Entziehung des Sorgerechts und nicht durch mildere Maßnahmen begegnet werden kann (BGH, Beschl. v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11, DRsp-Nr. 2011/21300).


Verhältnismäßigkeit einer Entziehung des Sorgerechts

 

Zudem darf Eltern das Sorgerecht nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entzogen werden. Helfende und unterstützende Maßnahmen sind vorrangig anzuwenden (BVerfG, Beschl. v. 17.02.1982 – 1 BvR 188/80, DRsp-Nr. 1994/2637 und Beschl. v. 28.02.2012 – 1 BvR 3116/11, DRsp-Nr. 2012/10833).


Entziehung des Sorgerechts nicht mehr gerechtfertigt

 

Eine Gefährdung des Kindeswohls für den Jugendlichen kann derzeit nicht mehr festgestellt werden. Die Mutter hat ihr Erziehungsverhalten erheblich geändert, sodass ihre erzieherische Einflussnahme auf den Jugendlichen zumindest in gewissem Umfang gegeben ist. Insbesondere schwänzt er die Schule kaum noch und ist nicht mehr weggelaufen. Die Mutter nimmt die staatliche Hilfe an.
Seit der Aufnahme in den mütterlichen Haushalt liegen zwar drei Strafanzeigen gegen den Jugendlichen vor. In der mündlichen Verhandlung zeigt er jedoch auf eindringliche Ansprache durchaus auch Tendenzen von Selbsterkenntnis. Außerdem war klar erkennbar, dass die Mutter delinquentes Verhalten in keiner Weise billigt und dem Jugendlichen dies auch bewusst ist. Ihm war auch klar, dass er seine Aussichten für die Zukunft maßgeblich durch sein jetziges Verhalten beeinflusst.


Erforderlichkeit einer Entziehung des Sorgerechts

 

Nach der Einschätzung des OLG ergibt sich ein ambivalentes Bild, was die Notwendigkeit angeht, die Mutter und den Jugendlichen in der Entwicklung und Erziehung zu unterstützen. Beide bedürfen der ständigen Unterstützung durch Fachkräfte.
Diese Bedenken gegen die Erziehungsfähigkeit der Mutter einerseits und bisherige Fehlentwicklungen des Jugendlichen andererseits rechtfertigen allerdings nicht den weiteren Eingriff in das Sorgerecht der Mutter. Die Mutter wäre bereit, weitere ambulante Unterstützungsmaßnahmen des Jugendamts anzunehmen. Sie kann auf ihren Sohn einwirken und tut dies inzwischen nach Möglichkeit auch.


Geeignetheit einer stationären Unterbringung

 

Insbesondere wäre ein weiterer Entzug des Sorgerechts aber auch unverhältnismäßig. Angesichts der deutlichen Verbesserung des schulischen Verhaltens und der nur geringen Neigung zur Delinquenz ist nicht erkennbar, im Hinblick auf welche Persönlichkeitsveränderungen eine stationäre Unterbringung überhaupt in Betracht gezogen werden könnte.


Angemessenheit einer stationären Unterbringung

 

Angesichts der Tatsache, dass die Mutter und der Jugendliche diese Unterbringung vehement ablehnen, ist es dem Jugendamt nicht gelungen, eine stationäre Unterbringung durchzusetzen. Vielmehr hat es entschieden, den Jugendlichen in der Obhut seiner Mutter zu belassen.
Wird der Jugendliche in der Obhut seiner Mutter belassen, ist aber nicht ersichtlich, aus welchem Grund der bestehende Eingriff in das Elternrecht der Mutter noch fortgesetzt werden soll. Die bloße Befürchtung, die bisherige positive Entwicklung könne Rückschritte erleiden, reicht nicht aus, um einen fortgesetzten nachhaltigen Eingriff in das Sorgerecht der Mutter zu rechtfertigen.


Folgerungen aus der Entscheidung

 

Die Abwägung des OLG macht deutlich, welche Unsicherheiten hinsichtlich des weiteren Vorgehens bestehen. Fragen der weiteren Entwicklung der Erziehungsfähigkeit der Mutter und des schulischen Verhaltens des Jugendlichen können nicht abschließend geklärt werden.
Hierbei handelt es sich um Prozesse, die gerade erst angestoßen worden sind und deren Verlauf zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar ist. Im Gerichtsverfahren können anhand der festgestellten Details nur Prognosen abgegeben werden. Jedoch ist die bisherige Entwicklung der Mutter und des Jugendlichen, die das OLG zusammengetragen hat, positiv.


Schwerwiegende Maßnahmen nicht erforderlich

 

Zwar besteht die Gefahr, dass die positive Entwicklung stagniert oder Rückschritte gemacht werden. Aber eine Gefahr ist kein Indiz für das tatsächliche Eintreten dieser Umstände. Hier handelt es sich nicht um eine gegenwärtige, erhebliche Gefahr, zu deren Abwendung eine schwerwiegende Maßnahme – wie die Entziehung des Sorgerechts – getroffen werden müsste. Vielmehr ist ein milderes Mittel zu wählen, z.B. eine helfende, unterstützende Maßnahme wie die Familienhilfe.
Praxishinweis
Auch Zweifel an der Erziehungsfähigkeit des Sorgeberechtigten und an einer an den Bedürfnissen des Kindes orientierten Erziehung reichen als gegenwärtige, erhebliche Gefahr für das Kindeswohl und somit als Voraussetzung für einen Entzug des Sorgerechts nicht aus. Vielmehr muss mehr als nur eine bloße Befürchtung dargelegt werden, um weiterhin einen Sorgerechtsentzug zu rechtfertigen.


Rechtsanwältin Nicole Seier, Gelsenkirchen

Themen: , ,